Wie Autonome die Welt sehen und ihre Gewalt rechtfertigen

Flickr /Thorsten Schröder / CC BY 2.0

Nachrichten, erklärt

Wie Autonome die Welt sehen und ihre Gewalt rechtfertigen

Warum haben manche Linksradikale kein Problem damit, Autos anzuzünden und Demonstrierende anzugreifen? Unser Autor hat Politik studiert, viel mit Autonomen diskutiert und deren Weltbild kennengelernt.

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Eines vorweg: Ich bin nie im schwarzen Block mitgelaufen und werde es auch nie tun. Die Meinungen, die ich hier beschreibe, sind nicht meine eigenen. Ich habe kein Verständnis für Gewalt, unter keinen Umständen. Ich habe Politikwissenschaft studiert und mich mit Protest auseinandergesetzt.

In meinem Beitrag geht es um einen Unterschied zwischen Verständnis und Verstehen: Ich versuche, die Ursachen für Gewaltbereitschaft zu verstehen, aber nicht, Verständnis zu wecken.

Und noch eine letzte Anmerkung: Genau genommen ist der schwarze Block keine Gruppierung, sondern eine Demonstrationstaktik. Das, was in den Medien – und der Einfachheit halber hier – als schwarzer Block dargestellt wird, ist in der Regel ein Zusammenfinden der verschiedensten Gruppierungen und Strömungen ohne übergeordnete Struktur oder Organisation, von denen einige die folgende Erklärung sicherlich so nicht teilen würden.

Der schwarze Block hält sich selbst nicht für radikal

Als Erstes sollten wir über Radikalität sprechen, oder besser: über Extremismus. Der schwarze Block wird als „linksextrem“ dargestellt. Aber aus seiner eigenen Perspektive ist er nicht extremistisch, sondern der aktuelle Status quo ist extremistisch. Oder anders: Nicht sie sind, sondern du bist der Extremist, denn du tust (vermutlich) nicht genug gegen diesen Status quo. Der Status quo heißt: Tausende Tote im Mittelmeer, Wirtschaftsimperialismus vor allem in armen Ländern, Ausbeutung, Sklaverei, Wirtschaftskriege, Menschenrechtsverletzungen.

Dafür ist aus Perspektive des schwarzen Blocks der Turbokapitalismus verantwortlich. Dessen Vertreter:innen, sei das jetzt die EZB oder die G20, sind demnach extremistisch. Denn sie haben diesen extremen Status quo zu verantworten, der jeden Tag Menschen tötet und ausbeutet. In Teilen richtet sich der schwarze Block daher auch gegen die Mehrheitsgesellschaft, die diese Verhältnisse durch Massenkonsum und Nichtstun zumindest passiv duldet.

Wie Autonome denken, lässt sich gut anhand der Proteste rund um den G20-Gipfel in Hamburg 2017 erklären: Aus ihrer Sicht sind solche Veranstaltungen aus all den oben genannten Gründen gewalttätig. Gleichzeitig sehen sie Organisationen wie die G20 als demokratisch illegitim. Es gibt kein demokratisches Fundament, auf das sich die G20 berufen können – oder wollen. Diese Gruppe basiert allein auf Wirtschaftskraft und behandelt wirtschaftliche Themen, die die ganze Welt betreffen. Der einzig demokratisch legitime Ort für diese Art von Gespräche sind die Vereinten Nationen.

Das heißt, Autonome wollten den Ablauf des G20-Gipfels mindestens stören, am liebsten aber verhindern, da sie ihn für nicht legitim, sondern für extremistisch und gewalttätig halten.

Friedlicher Protest ist für Autonome kein geeignetes Mittel, um das System zu stören

So wird auch klar, warum friedlicher Protest, wie er 2017 in Hamburg ebenfalls stattgefunden hat (Konzerte von Popstars oder „Yoga für Gerechtigkeit“) für sie keine Ausdrucksform von Protest waren und sind. Die notleidenden Menschen überall auf der Welt haben schlicht nicht den Luxus, darauf zu warten, dass friedliche Demonstrationen irgendwann Anklang finden oder eben, wie so oft, auch nicht. Es handelt sich aus der Perspektive des schwarzen Blocks um eine Krisensituation, die sofortiges Umschwenken im globalen Handeln braucht, weil jeden Tag Menschen leiden.

Militanten Autonomen geht es daher explizit um nonkonformen Protest, sie stellen sich und ihren Protest bewusst und absichtlich außerhalb von anerkannten, also in der Regel friedlichen Demonstrationsformen. Jeglicher staatlich anerkannte oder sanktionierte Protest ist in ihren Augen der Gefahr ausgesetzt, von staatstragenden Prozessen vereinnahmt zu werden. Aktive Behinderungen, Sachbeschädigungen bis hin zu Konfrontationen mit der Polizei sind in dieser Weltsicht daher legitimer, ja, vielleicht sogar die einzig legitime Art, wirklich zu protestieren.

Die bunten Demonstrationen stützen das System

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Nach den Ausschreitungen auf dem G20-Gipfel in Hamburg zum Beispiel würden sie darauf verweisen: Es gab 2017 fast 100.000 friedliche Demonstranten, aber die Zivilgesellschaft findet im Abschlussstatement nicht mal Erwähnung. Aus dieser Perspektive ist friedlicher Protest nicht nur nicht erfolgreich, sondern wirkt stabilisierend auf die Vorgänge, gegen die eigentlich protestiert wird. Denn sie kanalisieren gesellschaftliche Wut und lassen diese verpuffen, indem sie zu einem anerkannten Teil des ganzen Spektakels gemacht werden. Autonome wollen sich daher ganz bewusst von diesen Protestformen abgrenzen und „nicht anerkannte“ Protestformen für sich nutzen. Sie wollen auf eine Weise protestieren, die die Mächtigen nicht vereinnahmen können.

Dabei steht die Polizei stellvertretend für das aus Sicht der Autonomen extremistische, gewalttätige System (denn Aufgabe der Polizei ist der Schutz dieses Systems) – und bricht durch die Unterbindung des Demonstrationsrechts selbst auch immer wieder Recht. Aus dieser Perspektive wird vielleicht ein bisschen klarer, woher diese Uneinigkeit kommt, von wem die Gewalt ausgeht. Der schwarze Block würde argumentieren, solange der Status quo existiert, geht die Gewalt permanent vom System aus und damit auch von der Polizei, die dieses System schützt.

Das Thema Gewalt gegen Dinge, wie zum Beispiel Autos anzünden, ist – soweit ich das überblicke – ein Protest, der sich vor allem gegen Massenkonsum richtet und absichtlich diese Menschen, die mit ihrem Verhalten den beschriebenen Status quo tragen und fördern, gezielt in ihrem Alltag stören soll. Aus dieser Perspektive leben diese Menschen in einer Art Luxus-Konsum-Blase und es geht eben darum, diese Abschottung zu unterbrechen und die Krisen der Welt (die aus dieser Perspektive eben durch diesen blinden Massenkonsum mitgetragen werden) auch diesen Menschen immer wieder vor Augen zu führen.

Soweit mein Versuch, die Perspektive des schwarzen Blocks oder des „linksextremen“ Protests ein bisschen zu erklären. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Es handelt sich hier nicht um meine eigene Meinung.


Der Autor hat diesen Text zuerst vor sechs Jahren bei Reddit veröffentlicht. Für Krautreporter hat er den Beitrag damals erweitert und 2023 nochmal aktualisiert.

Redaktion: Rico Grimm und Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel, Audioversion: Christian Melchert

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