Als Premierministerin Theresa May im April vorgezogene Neuwahlen ausgerufen hat, gingen sie, ihre Partei und der Rest der Welt von einem sicheren Sieg der Konservativen aus. Mays Kalkül: Mit einem starken Ergebnis würde sie bessere Konditionen beim Brexit aushandeln können. Doch in den Umfragen rückt Jeremy Corbyns Labour Party immer näher heran. Noch ist der Unterschied komfortabel, aber trotzdem fragt man sich: Kann sich das angebliche britische Umfragenfiasko von 2015 wiederholen? Liegt Labour etwa schon vorne? Diese Fragen sind wegen des komplizierten britischen Wahlsystems nicht einfach zu beantworten. Und die Umfragen helfen nur wenig weiter.
Diese Analyse zur britischen Wahl ist Teil des Zusammenhangs „Die Macht der Umfragen“, der bis zur Bundestagswahl die Rolle der Meinungsforschung in unserer Demokratie beleuchtet.
Wie die Umfragen stehen
Im gewichteten Umfrageschnitt der britischen Zeitung Financial Times liegen die Konservativen von Theresa May bei 44 Prozentpunkten und die sozialdemokratische Labour Party bei 37 Prozentpunkten. Die Liberaldemokraten, die eine Kampagne für den Verbleib in der Europäischen Union fahren, stehen bei 8 Prozentpunkten, die rechtsextreme UKIP bei 4 und die schottische SNP bei 2 Prozentpunkten. Ähnlich sehen das auch der Telegraph und die BBC.
Sah der Wahlkampf lange nach einem Start-Ziel-Sieg für May aus, sind spätestens seit einer Umfrage von Yougov vom 31. Mai alle hellwach: Dort lagen die Konservativen nur noch drei Prozentpunkte vor der Labour Party. Die Umfrage sieht die Conservatives bei 42 Prozent und Labour bei 39 Prozent. Im Lager der Konservativen kam das gar nicht gut an. Der Wahlkampfberater Jim Messina zeigte Nerven und attackierte über Twitter die Macher der Umfrage.
https://twitter.com/Messina2012/status/869928746974949378
By the way, das Tolle an britischen Meinungsforschern ist, dass sie weit mehr Daten veröffentlichen als ihre deutschen Kollegen.
Zwei Dinge, die die Umfragen zeigen
Die Umfragen helfen uns zwar nicht vorherzusagen, wer die Wahl gewinnt (dazu gleich mehr), aber sie zeigen zwei interessante Entwicklungen:
- Der Vorsprung der Konservativen schrumpft im Laufe des Wahlkampfs beständig. Als Theresa May überraschend im April die Wahl ausrief, lag ihre Partei bei den Meinungsforschern im Schnitt rund 20 Prozentpunkte in Führung. Während Corbyns großzügiges Wahlprogramm nach Jahren der konservativen Austeritätspolitik gut ankommt, läuft in Mays Wahlkampf einiges schief. Vor allem mit ihre Weigerung, im Fernsehen mit Corbyn zu diskutieren, dominierte die Premierministerin zuletzt die Nachrichten. Sogar von der amerikanischen Fernsehserie House of Cards bekam sie auf Twitter ihr Fett ab.
https://twitter.com/HouseofCards/status/869991064098160640
- Die einzelnen Umfragen kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen (Übersicht der BBC). Während der Vorsprung bei Yougov auf 3 Prozentpunkte und bei Survation auf 2 geschmolzen ist, sind die Konservativen bei ICM 11 und bei ComRes sogar 12 Prozentpunkte in Führung. Warum das so ist, erkläre ich gleich.
Wieso das wenig aussagt
Anders als im deutschen Verhältniswahlrecht richtet sich im britischen Parlament die Fraktionsstärke nicht nach dem nationalen Stimmenanteil. Im United Kingdom werden die Parlamentssitze nach dem Mehrheitswahlrecht in den 650 Wahlkreisen verteilt. Daher lässt sich der Stimmenanteil nicht mal ansatzweise in die Zahl der Parlamentssitze umrechnen.
Um das zu verstehen, lohnt es sich, zwei kleinere Parteien und ihre Ergebnisse genauer anzusehen: Die rechtsextreme UKIP bekam bei der Wahl 2015 insgesamt 12,7 Prozent der Stimmen, errang damit aber nur ein einziges Mandat. Die schottische Partei SNP gewann hingegen 56 Sitze mit gerade mal 4,7 Prozent der Stimmen. Der Regionalpartei SNP gelang es nämlich, in vielen schottischen Wahlkreisen stärkste Partei zu werden, während sie in den meisten anderen Wahlkreisen keine Rolle spielte. Umgekehrt lief es für UKIP: Überall relativ gut, aber (fast) nirgendwo Erster.
Wieso die Umfragen so weit auseinander liegen
Die britischen Meinungsforscher erholen sich momentan noch von ihrem schlimmsten Debakel. Zuletzt hatten sie zweimal komplett daneben gegriffen. Statt einer Mehrheit für den Verbleib, wie von den Pollstern vorausgesagt, stimmten die Briten knapp für den Austritt aus der EU. Bei der General Election 2015 glaubten die Meinungsforscher an ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Am Ende lagen die Konservativen 6 Prozentpunkte vorne und erreichten die absolute Mehrheit im Parlament.
Seitdem lecken die britischen Demoskopen ihre Wunden und versuchen ihr Instrumentarium neu zu eichen. Deshalb experimentieren bei dieser Wahl viele Demoskopen mit neuen Methoden. Unvermeidbar werden sich einige Versuche hinterher als falsch und eventuell auch manche als korrekt herausstellen, wie Anthony Wells von Yougov schreibt.
Die großen Unterschiede in den einzelnen Umfragen sind in erster Linie auf einen Faktor zurückzuführen: wie hoch die Meinungsforscher die Wahlbeteiligung einschätzen.
Vereinfacht gesagt sehen jene Meinungsforschungsunternehmen die Konservativen weit vorne, die eine ähnliche Wahlbeteiligung wie 2015 erwarten. Jene, die ihr Berechnungsmodell stark auf die Selbstauskunft der Wahlwahrscheinlichkeit (also, die Antwort auf die Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass du am 8. Juni wählen gehst?) ausrichten, sehen einen kleineren Vorsprung.
Eines wird man den Meinungsforschern aber diesmal jedenfalls nicht vorwerfen können: den Herdeneffekt. Diesmal schielen die Demoskopen nicht auf die Zahlen der anderen und haben keine Angst davor, aus der Herde auszuscheren.
Worauf es am 8. Juni 2017 wirklich ankommt
Wahlbeteiligung, Wahlbeteiligung und Wahlbeteiligung. Um das zu verstehen, muss man sich zwei weitere Grafiken ansehen:
Das Alter ist die wichtigste demografische Kennzahl, die Wähler der Labour Party und der Conservative Party unterscheidet. Laut Zahlen von Yougov wählen Menschen, die jünger als 34 sind, mehrheitlich Labour, Menschen, die älter als 34 Jahre sind, wählen mehrheitlich konservativ (siehe Grafik oben).
Doch das Problem für die Sozialdemokraten ist, dass alte Menschen regelmäßiger wählen gehen. Laut Resolution Foundation gehen über 80 Prozent der Rentner (Menschen zwischen 65 und 80 Jahren) wählen, während nur rund 50 Prozent der jungen Erwachsenen (21 bis 35 Jahre alt) zuletzt wählen gingen.
Nachdem sich diese Wahlbeteiligungs-Alterskluft in den vergangenen Jahren immer weiter geöffnet hat, ist für die General Election 2017 die alles entscheidende Frage: Werden mehr Junge zur Wahl gehen? Seit bei der Brexit-Abstimmung die Alten die pro-europäischen Jungen überstimmt haben, scheinen die Jungwähler wie elektrisiert. Hat der Brexit-Schock die Millennials politisiert? Sollte die Wahlbeteiligung bei den unter 35-Jährigen stark steigen, wäre ein Sieg für Corbyn möglich.
Wahlentscheidend könnte außerdem sein, ob die schottische SNP ihren Wahlerfolg von 2015 mit 56 Mandaten halten kann oder ob Labour in Schottland Sitze zurückgewinnen kann.
Wer gewinnt die meisten Parlamentssitze?
Trotz widersprüchlicher Umfragen zum Abschluss noch ein Blick auf die schwierigste Frage: Wer gewinnt die meisten Parlamentssitze?
Eines der Experimente der Demoskopen nennt sich „Multilevel Regression and Post-stratification“ ( MRP). Mit MRP versucht Yougov, das Ergebnis in kleinen geografischen Einheiten wie Wahlkreisen vorherzusagen. Jede Woche befragt Yougov 50.000 britische Wähler über das Internet.
Aber selbst bei einer so großen Stichprobe ist es unmöglich, für jeden der 650 Wahlkreise eine ausreichend große Stichprobe zu bekommen. Deshalb nimmt das komplizierte Modell die Antworten der 50.000 befragten Wählern und vergleicht deren soziodemografischen Daten (wie Alter, Einkommen, Beruf, Geschlecht oder Größe des Wohnorts) mit Wählern in anderen Wahlkreisen. Basierend auf der Annahme, dass ähnliche Wähler auch ähnlich abstimmen werden, kann so für jeden der 650 Wahlkreise ein Ergebnis ermittelt werden.
Die Idee dahinter: Statistisch gesehen wird ein 50-jähriger Bauer aus dem Wahlkreis Cornwall North wohl ähnlich abstimmen wie eine 50-jähriger Bauer aus Halifax.
Einen Tage vor der Wahl sieht Yougov die Konservativen mit 302 Sitzen klar vor der Labour Party mit 269 Sitzen. Damit würden die Konservativen zwar weiter die Premierministerin stellen, aber es wäre eine herbe Wahlniederlage für sie. Denn bei der Wahl 2015 erreichten sie 326 der 650 Sitze und hatten so die absolute Mandatsmehrheit. So könnte Mays Übermut nach hinten losgehen: Die Premierministerin hat die Wahlen ja auch in Anbetracht der guten Umfragewerte ausgerufen und sicherlich erwartet, die Mehrheit weiter ausbauen zu können.
Allerdings sehen die Demoskopen eine Schwankungsbreite von 269 bis 334 Sitzen für die Konservativen und 238 bis 302 Sitzen für die Sozialdemokraten. Das heißt, alles kann auch ganz anders kommen.
Christian Gesellmann hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat ihn gegengelesen; das Aufmacherbild hat Martin Gommel ausgesucht (iStock / AndresGarciaM)