Bis zu jenem Sommerabend war alles gut. Auf einer Rundreise durch Indien hatten sie sich kennengelernt, einige Jahre zuvor. Sie: groß, schlank und blond, von einer natürlichen, aber zurückhaltenden Eleganz. Er: klein, kompakt und schwarzhaarig, von einer stillen, aber dogmatischen Kompromisslosigkeit. Halb US-Amerikaner, halb Japaner. Sie war mit zwei Freundinnen aus Deutschland nach Indien gereist. Er war allein unterwegs. Fand eigentlich eine ihrer Begleiterinnen gut. Aber es kam anders.
Die blonde junge Frau und er kamen sich näher. Und später zusammen. Fortan bilden sie ein kosmopolitisches Vorzeige-Couple, ein sogenanntes Power-Paar. Anfangs getrennt durch Kontinente. Sie in München, er in Neu-Delhi. Parfümierte Briefe und Flug-Tickets wechseln hin und her. Er bekommt ein Jobangebot aus den USA, sie geht mit. Dann Hochzeit, neue Heimat in Portland, Oregon.
Die beiden sind ein schönes Paar. Gemeinsam erobern sie die Welt. Sie wechselt von einem großartigen Job zum nächsten, plant und verantwortet Projekte. Er arbeitet zunächst in der Werbung, macht dann seinen MBA, sattelt schließlich um auf Schreiner. Beide verwirklichen ihre Träume, sind frei und doch zusammen. Alles läuft gut. Alles läuft nach Plan.
Ein Kind soll kommen, irgendwann. Als logische Konsequenz ihrer Liebe. Aber jetzt schon? Lieber erst später. Ein Kind kann noch warten. Jetzt wartet die Welt.
Wofür hat die junge Frau aus Regensburg sonst Jura und Chinesisch in München studiert? Außerdem: Sie ist ja erst 30. Er auch. Es gibt keinen Druck. Stattdessen tolle Jobs. Auch die Eltern der jungen Frau drängen nicht. Während ihre älteste Tochter sich die Welt zu eigen macht, gebärt die jüngste ihr erstes Kind. Mit 19. Schließt eine Ausbildung bei der Sparkasse ab. Bekommt ein weiteres Kind. Schließt einen Bausparvertrag ab. Bekommt ein drittes Kind. Noch eins, und noch eins. Fünf insgesamt.
Das Power-Paar indes zieht weiter. Wechselt nach vier Jahren Portland nach Singapur. Sie für IBM, er für seinen MBA. Doch es gefällt ihnen nicht in der grauen, seelenlosen Stadt. Sie bekommt ein Job-Angebot von der deutschen Botschaft, er schließt seinen MBA ab. Beide gehen nach Peking.
Sie bleiben zwei Jahre, doch dann beschließt er: Er will etwas Handfestes machen. Keine Werbung mehr, etwas Eigenes schaffen. Tische, Stühle und Bänke bauen. Also bringt sie weiterhin das Geld nach Hause, er startet eine Lehre. Möchte dann nach Florenz wechseln, doch sie will nicht nach Italien. Der Kompromiss lautet Hamburg.
Noch nie waren sie gemeinsam für längere Zeit in Deutschland, er kennt das Land nur von Besuchen. Aber es ist ihre Heimat. Gemeinsam beschließen sie: Hier wollen sie sich einrichten und das Projekt Familie starten. Es fühlt sich an, als sei die Zeit nun reif dafür.
Keine Töpfe mehr von Ikea, keine Umzugskartons. Sondern eine teure Ledercouch, echte Bilder an der Wand, Geschirr von Manufactum. Kein Bleiben auf Zeit, sondern auf unbegrenzt. Hamburg soll ihr Zuhause werden. Und ein Kind soll es füllen.
Sie setzt die Pille ab. Und hat so gut wie keine Chance mehr, schwanger zu werden
Als das Paar seine Pläne verkündet, freuen sich die Eltern und der Rest der Familie. Die Schwester wäscht die alte Babykleidung ihrer Kinder für die junge Frau. Strampler und Jäckchen, Mützen und Söckchen. Die Mutter restauriert das alte Puppenhaus, das sie selbst einmal gebaut hat. Drei Stockwerke, mit Keller, das Dach rot.
Die junge Frau geht ihre alten Kinderbücher durch. Sie hat sie alle aufbewahrt für das Kind, das sie später einmal haben wird. Sie stellt sich vor, wie sie ihm später daraus vorliest. Jeden Abend, vor dem Schlafengehen. So wie ihre Mutter es auch getan hat.
Der junge Mann und die junge Frau sind zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.Sie verzichtet fortan auf die Pille. Zum ersten Mal seit knapp zwanzig Jahren. Macht sich keine Sorgen und denkt, alles sei noch offen.
Schon bald, nachdem die junge Frau die Pille absetzt, reagiert ihr Körper. Aber nicht mit einer Schwangerschaft. Obwohl sie ihre Periode nicht bekommt. Sondern mit Schlaflosigkeit und Hitzewallungen. Irgendwann schläft sie gar nicht mehr. Nicht in der Nacht, auch nicht am Tag. Immer schwerer drückt die Müdigkeit sie nach unten, so, als ziehe jemand an ihren Füßen. Also macht sie einen Termin und geht zu ihrer Frauenärztin.
Stress, so lautet die Diagnose. Ruhe, so der ärztliche Rat. Ihre Periode kommt trotzdem nicht. Sie macht die ersten Tests. Lässt ihre Chromosomen untersuchen. Ergebnis: zweimal X, kein Y. Biologisch betrachtet: eindeutig Frau. Sie lässt auch ihre Hormone testen. Erst bei ihrer Ärztin, zusätzlich bei einer Hormonspezialistin. Lautlos und tiefrot tröpfelt das Blut der jungen Frau ein Laborröhrchen nach dem nächsten voll. Ein paar Tage vergehen.
Dann kommt jener Sommerabend. Ein ganz normaler Tag mitten in der Woche. Die Praxis der Frauenärztin hat längst geschlossen, als die junge Frau deren Nummer auf ihrem tutenden Handy erblickt. Das Power-Paar ist gerade auf dem Weg zum Abendessen, der Vater des jungen Mannes ist zu Besuch in der Stadt. In den Straßen sitzen die Menschen in Cafés und auf dem Bordstein, die Hitze des Tages staut sich zwischen Hauswänden, drückende Schwüle mischt sich mit feierabendlichem Ausatmen. Das Blutbild, so sagt es die Ärztin in das Handy der jungen Frau, zeige einen zu niedrigen Gehalt an Östrogenen. Dass ihre Eierstöcke kein Anti-Müller-Hormon mehr produzierten. Und damit keine Eizellen mehr.
Diagnose Klimakterium praecox, vorgezogene Wechseljahre. Mit Mitte 30.
Die junge Frau hat jetzt noch eine 0,05-prozentige Chance, schwanger zu werden.
Also praktisch keine.
Nur ein bis zwei Prozent der Frauen kommen vorzeitig in die Wechseljahre
Nach dem Schock kommen die Fragen. Wie kann das sein? Wechseljahre mit Mitte 30. Ist die Pille schuld? Doch der Stress? Wieso ich, fragt sich die junge Frau. Ihre Schwester hat fünf Kinder, die eigene Mutter drei. Und ihr soll es unmöglich sein, schwanger zu werden?
Sie fragt die Ärztin, danach die Hormonspezialistin. Doch keine von beiden weiß Antworten. Weil keine die medizinische Ursache ihres körperlichen Fehlverhaltens bestimmen kann. Die junge Frau erfährt lediglich, dass sie eine Ausnahme sei. Gerade mal ein bis zwei Prozent aller Frauen ereilt der vorgezogene Hormonwandel.
Wie jetzt weiter, fragt sich das Paar? Und tut das, was es immer getan hat: einen Plan aufstellen.
Der nächste Termin: Kinderwunschklinik. Gespräch beim Spezialisten. Das ganze Foyer der Praxis ist zugepflastert mit wandhohen Babyfotos. Der junge Mann reagiert wütend, will umdrehen. Die junge Frau ist die rationalere von beiden, bleibt ruhig. Der Arzt schaut sich ihre Werte an, verschreibt ein Hormonpräparat. Sie nimmt das Medikament, Hoffnung auf Eizellen. Warten. Nichts passiert.
Erneuter Termin in der Kinderwunschklink. Der Arzt erwähnt jetzt das Wort Eizellspende. In Deutschland verboten. Aber es gibt andere Kliniken, im Ausland. Für beide ist diese Option zu weit weg. Also keine Eizellspende. Keine fremden Gene.
Und überhaupt: Eine Eizellspende ist teuer. Er verdient noch immer kein Geld. Tut sich schwer, als Schreiner in Hamburg Fuß zu fassen. Sie holen eine weitere Meinung ein. Also Termin im Fruchtbarkeitszentrum. Noch einmal lassen sie ihre Blutwerte kontrollieren. Nichts zu machen. „Trotzdem ein schönes Leben“, sagt die Ärztin dem Power-Paar zum Abschied.
Sie wechselt noch einmal die Ärztin. Will keine Möglichkeit auslassen. Wieder nur Kopfschütteln. Vielleicht kann die alternative Medizin helfen? Ein Versuch ist es wert. Auch wenn die Frau eigentlich nicht daran glaubt. Sie geht trotzdem zu einer Heilmeditation, lässt sich von einem chinesischen Meister die Hände auf den Bauch legen. Erträgt es nur schwer, geht nach einem einzigen Termin nicht wieder hin.
Ein ganzes Jahr läuft das Paar nun schon von einem Arzt zum anderen. Mit der wachsenden Unmöglichkeit, ihren Plan zu erfüllen, steigt die Dringlichkeit nach einem Kind.
Er leidet mehr als sie. Die Beziehung leidet auch. Das Power-Paar muss jetzt um seine Energie kämpfen. Die Batterie schwächelt.
Die junge Frau bekommt aufgrund des Hormonmangels und der Wechseljahre überall trockene Haut. Und graue Haare. „Färb' sie dir blond“, sagt er.
Sie fühlt sich zurückgewiesen, in ihrer Weiblichkeit angegriffen. Er fängt sie nicht auf, ist stattdessen wütend ohne Ziel. Auf einem Geschäftstermin in Boston holt sie sich die Bestätigung an anderer Stelle. Lässt sich bei einem Feierabend-Meeting mit Kollegen auf einen Drink einladen. Von einem Fremden. Genießt seine Aufmerksamkeit. Und knutscht mit ihm. Es bleibt bei Küssen, mehr passiert nicht. Zu Hause beichtet sie trotzdem. Er wirft ihr vor, ihn schwer betrogen zu haben. Und wird es ihr nachtragen.
Aber sie geben nicht auf. Noch nicht. Noch ist die Batterie des Power-Paars nicht gänzlich leer.
Es sind seine Eltern, die das Wort Adoption in den Raum werfen. Wieso auch nicht? Der junge Mann kennt zwei Frauen in den USA, von denen die eine drei Kinder aus China adoptiert hat, die andere eines. Sogar ohne Mann! Gemeinsam bilden die zwei Frauen mit den Kindern einen Verbund, teilen zwar keine Partnerschaft, aber ein Haus und den Alltag. Sind eine Familie der Moderne. Die junge Frau findet die Idee einer Adoption gut; bei dem Wunsch nach einem Kind ging es ihr nie um eine Körperlichkeit. Nicht um das Austragen des Babys, oder um das Erlebnis der Geburt. Sie ist die Hauptverdienerin in dieser Familie, der doch der zentrale Baustein fehlt, um eine solche zu sein.
Sie und der junge Mann sind kein Dreigestirn, sondern zwei Fixpunkte. Die gefühlte Lücke zwischen ihnen, das fehlende Kind, schluckt das einstig gemeinsame Strahlen nach und nach. Wie ein schwarzes Loch alles um sich herum.
Das Paar einigt sich auf eine Adoption. Nach fünf verschiedenen Ärzten scheint sie der nächste logische Schritt. Es gibt genug Kinder auf der Welt, die gute Eltern brauchen, denkt sie. Beide sind sich sicher, damit letztlich die richtige Methode zur Vollendung ihres Plans zu wählen. Die Frau denkt an die zwei Bekannten ihres Mannes aus den USA. Und sie ist sich sicher: Wenn diese zwei Frauen vier Kinder adoptieren können, werden sie und ihr Mann es wohl auch schaffen, eins zu adoptieren.
Doch die Frau macht einen Denkfehler. Sie rechnet nicht mit dem deutschen Staat. Unbedarft beginnt sie zu recherchieren. Liest sich im Internet durch Erfahrungsberichte, Agentur-Webseiten und Informationen des Bundesamtes für Familie. Sie erinnert sich an ihren Sandkastenfreund. Einen kleinen Jungen, den Bekannte ihrer Eltern adoptiert hatten. Sie erinnert sich, wie sie mit ihm Eimerchen tauschte, Sandkuchen backte. Und wie er Jahre später als Erwachsener Straftaten beging, schließlich im Gefängnis landete. Die Erinnerung macht der jungen Frau Angst. Sie will sie abstreifen. Bestellt stattdessen Bücher mit Adoptionsgeschichten und sucht andere Beispiele, die ermutigen sollen.
Zu Hause gehen die junge Frau und ihr Mann die Anforderungen für eine Adoption nach deutschem Recht durch. Sie scrollen sich durchs Internet. Rufen bei der örtlichen Beratungsbehörde an. Die Frau am Telefon fragt nach dem Alter. Es folgt die erste Ernüchterung. Der junge Mann und die junge Frau sind mittlerweile 36 Jahre alt; bis die Adoption eines Babys in Deutschland erfolgreich abgeschlossen ist, können vom ersten Beratungsgespräch bis zum Einzug des Babys ins neue Elternhaus Jahre vergehen. Für Paare, die älter sind als 40, ist es in der Praxis nahezu unmöglich, ein Neugeborenes zu adoptieren. Manche Jugendämter ziehen schon bei 35 Jahren die Grenze.
Die Dame am Telefon fragt weiter. Welchen Beruf beide ausüben. Wie viel sie erwirtschaften. Wer der Hauptverdiener ist. Ob das Paar in einer Wohnung wohnt oder in einem Haus. Ob sie die Wohnung mieten oder besitzen. Wie groß sie ist. Ob einer von beiden Schulden hat. Ob es finanzielle Rücklagen gibt. Wer zu Hause beim Kind bleiben würde. All das sind die ersten Standardfragen für Menschen, die Adoptiveltern werden wollen.
Wer erfüllt die Voraussetzungen und darf eine Familie werden?
Die junge Frau bringt das Geld nach Hause. Sie verdient 5.000 Euro im Monat brutto. Sie würde in Elternzeit gehen, kann sich aber auch mit einem Kind nicht vorstellen, nur noch Hausfrau zu sein für eine lange Zeit. Die Wohnung ist hundert Quadratmeter groß, gemietet. Schulden gibt es keine, aber Rücklagen auch nicht.
Zwei Vorstellungen prallen in diesem Moment aufeinander: Das deutsche Recht in all seiner Strenge trifft auf die moderne Welt. In der sich Biographien heute nicht selten durch partnerschaftliche Verzweigungen über Ländergrenzen hinweg auszeichnen. Durch berufliche Flexibilität. Eine Vorstellung von Egalität. Durch neue Formen des Zusammenlebens. Längere Ausbildungszeiten. Spätere Elternschaften. Gelebte Homosexualität. Und nicht mehr zwingend durch ein Eigenheim. Den Bausparvertrag. Einen Trauschein. Den linearen Lebenslauf von Lieschen Müller. Oder durch eine Frau, die trotz ihres Kindeswunsches nicht „nur“ Mutter sein will.
Doch das deutsche Recht und die zuständigen Jugendämter ziehen ein enges Raster über die Frage, wer eine Familie bilden darf. Viel ist dabei Ermessungs- und Auslegungssache, viel entscheidet letztlich die Bewertung durch das jeweilige Jugendamt. Zudem können die Eltern, die ihr Kind zur Adoption freigeben, Präferenzen für die künftigen Eltern angeben.
Die junge Frau und der junge Mann gehören nach der Einschätzung der Frau von der Beratungsstelle nicht zu denen, die hoffen dürfen. Sie erfüllen die nötigen Kriterien nicht.
All die tollen Referenzen im Lebenslauf, der hohe Bildungsgrad, der gut bezahlte Job, dazu der Herzenswunsch nach einem Kind und der Wille, gut für dieses zu sorgen, all das reicht nicht. Am Ende des Telefonats sagt die Frau vom Jugendamt: „Das sind alles keine guten Voraussetzungen.“ Wieso, sagt sie nicht.
Das Paar sucht nach Alternativen. Vielleicht eine Auslandsadoption?
Nach diesem ersten Beratungstelefonat ist die junge Frau vollkommen entmutigt. Und wütend. Noch vor dem langen Weg durch die Instanzen, den eine Adoption nach deutschem Recht bedeuten würde, verweigert sich das Paar. Entscheidet sich gegen eine intensive Eignungsprüfung, Hausbesuche, Wochenendseminare und Vorbereitungstreffen. Legt noch einmal schützend die Arme umeinander und beschließt, sich von niemandem in den eigenen Werten beurteilen und infrage stellen zu lassen. Auch nicht von einer deutschen Behörde.
Sie wollen ein Kind, sicher. Aber nicht um jeden Preis. Nicht um die Verleugnung der eigenen Identität. Niemand soll ihnen vorschreiben, wie sie zu leben haben.
Das Paar versucht, pragmatisch und lösungsorientiert zu denken: Wie wäre es mit einem Baby aus dem Ausland? Der Horizont des Paares ist weit. Deutschsein gehört nicht zu ihrer Identität, zu seiner schon gar nicht. Ein Kind würde sowieso mindestens zweisprachig bei ihnen aufwachsen. Wieso also nicht einen Säugling aus dem Ausland adoptieren? Zum Beispiel aus Asien. Die Region ist ihnen vertraut.
Die junge Frau denkt wieder an die zwei Frauen aus den USA, die ihr Mann kennt. Und überlegt: Ein chinesisches Kind würde auch äußerlich gut passen. Anders als zum Beispiel ein Kind aus Afrika. Ihr Mann trägt als Halb-Japaner ebenfalls asiatische Züge in seinem Gesicht. Sie fühlt sich schlecht, weil sie in ihrem Kopf einen Wunschkatalog durchgeht. Es fühlt sich falsch an. Doch die Frau verwirft ihre Skrupel. Schiebt sie beiseite.
Es reift die Idee, eine Adoption über eine ausländische Agentur zu versuchen. In London beispielsweise. Das Paar lässt sich beraten. In ihren schwachen Momenten, wenn die Batterie sich gänzlich leer anfühlt, driften beide gedanklich in Richtung Illegalität. Wieso kein Kind kaufen, fragen sie sich dann. Wieso nicht einfach das Geld, das sie haben, in die Hand nehmen. Sich damit in ein Flugzeug setzen, in ein Waisenhaus reisen, bezahlen und mit einem gesunden Baby zurückkommen.
Madonna hat es so gemacht. Angelina Jolie und Brad Pitt auch. Das Gewissen sucht sich Krücken, wenn es Not tut. Und kann doch über die Realität nicht hinwegspringen.
Wie hoch ist der Preis für ein Kind?
Das Paar muss lernen: So einfach ist es nicht. Auch nicht über die ausländische Agentur in London. Das deutsche Recht könnten sie trotzdem nicht umgehen. Beratungsgespräche, Eignungstest, Vorbereitungsseminare, Hausbesuche, Prüfung der persönlichen Lebensumstände: All das bliebe ihnen nicht erspart.
Doch noch immer wollen sie nicht aufgeben. Die Frau ist es aus ihrem Job gewöhnt, mit Problemen konfrontiert zu sein. Taucht eines auf, schaut sie es so lange von verschiedenen Seiten an, bis sie eine Lösung findet. Wieder fragt sich das Paar: Welche Alternative könnte es geben? Dann plötzlich, die Idee: Er ist doch US-Amerikaner, sein Pass bezeugt es. Wieso also nicht als US-Amerikaner über das dortige, liberalere Recht eine Adoption beantragen?
Sie machen eine Agentur in Frankfurt ausfindig, die genau das anbietet für Paare in Deutschland. Wieder lassen sie sich beraten. Es fühlt sich gut an, der Berater hat viel mehr Verständnis als die deutschen Behörden, so empfindet es die Frau. Sie erfahren von ihm, dass es wichtig wäre für einen erfolgreichen Abschluss des Adoptionsantrages, Präsenz in den USA zu zeigen. Vielleicht könne man eine Wohnung dort mieten, schlägt der Berater vor. Zumindest zeitweise. Oder einer von beiden könne seinen Job in die USA verlegen. Wie sähe es generell mit einem Umzug aus?
Das Paar überlegt. Geht die Konsequenzen einzeln durch. Wenn, dann könnte nur der junge Mann seinen Job in die USA verlegen; sie hat gerade erst ihre Greencard abgegeben. Er jedoch will nicht in seinen alten Beruf zurück. Keine Werbung mehr. Schreiner zu sein, ist sein großer Traum. Er hat viel Zeit in dessen Verwirklichung investiert. Und sie viel Geld. Überdies wäre eine Adoption nach amerikanischem Recht teurer als nach deutschem. Viel teurer. Und überhaupt: Würden Sie wirklich noch einmal umziehen wollen? Wieder ihr sorgsam aufgebautes Leben in Kisten verstauen? Wieder neu anfangen?
Nachdem das Thema Adoption das Paar zu diesem Zeitpunkt schon ein Jahr begleitet hat, setzt jetzt ein Umdenken ein. Sie wollen nicht wieder neu aufbrechen. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Der Preis erscheint dem Paar zu hoch.
Sie werden müde. Vielleicht, denkt die junge Frau, muss man sich eben doch fügen in das, was andere Schicksal nennen.
Sie lassen das Kinder-Thema eine Weile ruhen. Es gibt auch so genug Baustellen, zwischen ihnen. Er kann ihr die fremden Küsse mit dem anderen Mann nicht verzeihen. Und leidet nach wie vor an der Tatsache, dass er kein leibliches Kind haben wird. „Es ist doch nicht deine Schuld“, sagt er. Aber genau so empfindet sie es manchmal.
Der letzte Versuch, doch noch eine Familie zu werden
Dann erzählt eine Freundin ihr von einer Klinik in Madrid. Verweist sie an eine Bekannte, die die das Haus dort gut kennt. Eizellspende. Die Frau überlegt. Sie ist nicht verzweifelt, aber will es nun doch versuchen. Weil sie Klarheit braucht. Und jede Möglichkeit, die es gibt, nutzen oder ausschließen will. Ein Häkchen setzen möchte.
Die Klinik hat einen hervorragenden Ruf. Die Ärzte top, die Betreuung gut, so hat es ihr die Bekannte geschildert. So sagt die junge Frau es ihrem Mann. Sie redet ihm gut zu. Und bucht zwei Flüge plus zwei Tickets für das Fußball-Derby Madrid gegen Barcelona. Weil ihr Mann so ein großer Fußball-Fan ist. Nachmittags in die Klinik, abends zum Spiel, so hat die junge Frau es geplant. Es soll ein schönes Wochenende werden, ein entspanntes. Trotz des schwierigen Themas. Ihr Mann sagt schließlich: „Okay.“
Sie fliegen nach Spanien. In der Klinik gibt er eine Spermaprobe ab, beide werden auf mögliche Erbkrankheiten getestet. Sie durchläuft eine Untersuchung, die zeigen soll, ob sie körperlich in der Lage ist, ein Kind zu gebären. Zusätzlich bekommen sie ein Beratungsgespräch. Und machen einen biometrischen Abgleich. Lassen die Augen- und Haarfarbe der Frau dokumentieren sowie ihre Größe. Damit die Spenderin der Eizelle und damit hoffentlich auch das Kind am Ende passen. Die junge Frau hat ein gutes Gefühl. Fasst sofort Vertrauen zu dem betreuenden Arzt, fühlt sich wohl in der Klinik. Abends schauen sie und ihr Mann sich das Fußball-Spiel im Stadion an, 0:0. Danach gehen sie essen, schlendern durch die warme Nacht. Am anderen Tag treffen sie noch eine Freundin, die sie aus New York kennen. Besuchen das örtliche Design-Museum. Genießen das Sommer-Wochenende in Madrid.
Am nächsten Morgen fliegen sie zurück nach Deutschland. Die junge Frau denkt positiv in die Zukunft. Sinniert über den besten Zeitpunkt für eine Schwangerschaft. Überlegt, welcher Zeitpunkt am günstigsten wäre, wie lange sie Elternzeit nehmen würde, in welche Kita das Kind gehen könnte, wer es abholen würde. In ihrem Kopf werden die Bilder immer konkreter. „Danke für den tollen Tipp!“, schreibt sie jener Freundin, die ihr von der Klinik erzählt hatte.
Der junge Mann hingegen fühlt sich bald schlecht nach der Rückkehr aus Madrid. Er wird den Gedanken nicht los, das Kind könne aufgrund der gespendeten Eizelle äußerlich derart anders aussehen als er und seine Frau, dass man dem Kind die Fremdheit sein Leben lang anmerken würde. Die junge Frau versteht ihn nicht. Versucht trotzdem, ihn zu beschwichtigen. Und wagt ein letztes Mal einen neuen Vorschlag: „Okay, wenn du dich nicht wohl fühlst mit der Klinik in Madrid, lass uns eine zweite anschauen.“
Er schlägt Tschechien vor. „Da sehen alle aus wie du, nicht wie in Spanien“, sagt er zu seiner Frau. Sie findet das Argument irrational und falsch, willigt aber ein.
Sie fängt wieder an, sich im Internet zu informieren. Sie ist ja schließlich die Projektplanerin in dieser Sache. Weil sie die Organisatorin in dieser Beziehung ist. Die junge Frau findet eine Klinik in Prag, vereinbart einen Termin für den darauf folgenden Januar.
Auf einmal überdenkt die Frau den gemeinsamen Plan - und ihre Ehe
Doch bis dahin schafft das Paar es nicht mehr. Von der gemeinsamen Power ist nichts mehr übrig. Die Batterien sind leer.
Das wird der Frau schlagartig klar, als der Mann im November 2014 für mehrere Wochen beruflich nach Florenz reist. Eigentlich kein großes Thema; ihre Beziehung hat sich in den 14 Jahren, in denen sie nun schon zusammen sind, immer wieder durch Phasen ausgezeichnet, in denen beide an getrennten Orten waren. Aber diesmal ist es anders. Während sie für das gemeinsame Projekt Kind plant, überlegt, recherchiert, organisiert und die größere Last trägt, treibt er seine berufliche Neuausrichtung voran. Konzentriert sich auf seine Karriere. Unterstützt sie nicht genug, so fühlt sie es. Die Frau zweifelt jetzt an dem gemeinsamen Plan. Weil sie nicht mehr das Gefühl hat, dass es wirklich ein gemeinsamer ist. Höchstens in der Theorie. Nicht aber in der Praxis.
Fünf Tage vor Weihnachten kehrt der Mann aus Florenz zurück. Draußen schneit es, die Kälte zieht durch die Fensterritzen in die Wohnung. Die Frau sitzt auf der Heizung in der Küche, der Mann am Küchentisch, als ihr Vater anruft. Vor Freude überschlägt seine Stimme sich fast am Telefon, er habe eine frohe Botschaft zu verkünden, sagt er: „Mama und ich werden wieder Oma und Opa!“ Der Bruder der jungen Frau und ihre Schwägerin erwarten ein Kind.
Die Frau auf der Heizung schluckt. Sie ist nicht wütend, freut sich für den Bruder und ihre Eltern. Auch der Schwester mit den fünf Kindern war sie nie böse, selbst jetzt nicht. Aber sie spürt eine Ungerechtigkeit, jetzt, da ihr das Thema Adoption wieder in den Sinn schießt. Weil der deutsche Staat ein nicht leibliches Kind für sie aussichtslos macht.
Sie fühlt sich ungerecht behandelt durch ein System, das im Falle einer Adoption nie für alle gerecht sein kann. Weil es die Wünsche der zukünftigen Eltern, den Schutz des jeweiligen Kindes, die Wünsche der scheidenden Eltern und die eigene Bewertung miteinander verhandeln muss, jeden Tag neu. Der jungen Frau kommen die Tränen.
An Weihnachten nimmt sie Abschied
Sie reißt sich zusammen, nimmt sich selbst zurück, wie so oft. Sagt dem Vater am Telefon, dass sie natürlich wie geplant zum Weihnachtsfest nach Hause kommt. Ihr Mann aber kann es nicht ertragen. Will die Kinder der Schwägerin und den Schwager mit seiner schwangeren Frau nicht sehen, wenn die Großfamilie an Weihnachten zusammenkommt. Weil er sich durch sie zu sehr an seine eigene Verzweiflung und seinen Schmerz über das nicht vorhandene Kind erinnert fühlt, sagt er.
Und so fährt die Frau an Weihnachten allein zu ihren Eltern. Während er kurz entschlossen zu einem Freund nach Berlin flüchtet. Sie liegt im alten Kinderzimmer ihres Bruders, es ist Abend. Draußen vor dem Fenster reflektiert der Schnee das karge Laternenlicht in der Dunkelheit, drinnen durchzieht der Duft des Weihnachtsbaums und der von echten Kerzen das Haus. Im Kamin glimmt die letzte Glut lautlos ihrem Ende entgegen, auch die anderen Familienmitglieder sind längst zu Bett gegangen.
Die junge Frau hat die Beine angewinkelt, den Kopf auf ihrem alten Stoffkuscheltier gebettet, die Decke bis unters Kinn hoch gezogen. Dann zieht sie ein Resümee. Von dem Projekt Kind, das sie die vergangenen dreieinhalb Jahre begleitet hat. Und von ihrer Ehe.
Erst langsam, aber doch unaufhaltsam sickert der Gedanke aus dem Kopf in ihren Bauch und setzt sich dort fest: Das Projekt Kind, der Termin in der Klinik in Prag, die Beziehung zu ihrem Mann: All das macht plötzlich keinen Sinn mehr.
Auf einmal wird ihr klar: In all den Jahren ging es immer nur um ihn. Um seine Probleme. Sein Leiden. Seinen Schmerz. Und sie erkennt, woran es ihr mangelt: an Vertrauen zu ihm.
In diesen Stunden, während sie die Wand anstarrt, verabschiedet sich die Frau. Mit einer unveränderbaren Klarheit.
Ganz still und leise.
Ganz für sich allein.
Erst von ihrem Mann.
Dann von ihrem Plan.
Kein Kind.
Nicht jetzt, nicht später.
Die Protagonistin in diesem Text wurde auf ihren eigenen Wunsch hin anonymisiert. Ihre Identität ist der Autorin aber bekannt. Dieser Text ist 2017 zum ersten Mal erschienen. Weil er zeitlos ist und viele von euch ihn sicher noch nicht kennen, haben wir ihn für euch am 30.11. 2021 aktualisiert und noch einmal auf die Startseite gehoben.
Redaktion und Produktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel; Audioversion: Iris Hochberger