„Ich würde gerne mehr über polyamoröse Gefühle und Beziehungen erfahren“, hat mir Krautreporter-Leser K. geschrieben: „Ist es normal, sich zu mehreren Menschen gleichzeitig hingezogen zu fühlen, mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben? Und wie vielen Leuten geht es so, zum Beispiel, wie häufig sind polyamoröse Beziehungen?“ Nun versuche ich mich an einer Antwort, denn die Frage ist mal wieder trickreicher, als sie auf den ersten Blick scheint.
Ich musste zuerst an Tilda Swinton denken. Die Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin hat die Polyamorie, das heißt die Vielliebe, zu ihrem Lebensentwurf gemacht hat und liebt offen zwei Männer: den Vater ihrer Kinder, Langzeitpartner John Byrne, und ihren Liebhaber Sandro Kopp. Der zweite Gedanke galt Deutschlands wahrscheinlich bekanntestem Polyamoristen Rainer Langhans. Krautreporter-Autorin Theresa Bäuerlein hat vor einiger Zeit Christa Ritter getroffen und porträtiert, eine der fünf Geliebten des Alt-68ers. Erstaunliche Erkenntnis: Es geht bei dem abfällig „Harem“ genanntem Gebilde weder um romantische Liebe noch um Sex. Davon findet sogar ziemlich wenig statt. Ritter etwa hat überhaupt noch nie mit Langhans geschlafen. Sondern es geht um „Beziehungsarbeit“, die „all das an Wut, Hass und Besitzdenken an die Oberfläche bringen soll“, was in ihnen stecke. Mhm. Das klingt irgendwie ziemlich verkopft. Es bildet aber womöglich auch eine Facette dessen ab, nach dem du fragst, lieber K.
Neulich habe ich ein Interview mit der Schauspielerin Katharina Wackernagel gelesen, die darüber berichtet, wie es als Kind war, eine Mutter zu haben, die mit zwei Männern zusammenlebte: eine Bereicherung - aber „wir Kinder haben das Lebenskonzept nicht übernommen, weil wir eben auch gesehen haben, wie viel Anstrengung es kostet, sich zu arrangieren.“
Du, lieber K., lebst in einer Partnerschaft und hast gleichzeitig schon öfter Gefühle für andere empfunden, mit deiner Partnerin aber nicht darüber gesprochen. Du schreibst: „Ich bin mir tatsächlich unsicher, ob mich meine Partnerin überhaupt verstehen würde. Ich selbst kann mich zu mehreren Menschen gleichzeitig hingezogen fühlen und habe einige Freunde, denen es auch so geht oder die sogar schon polyamoröse Beziehungen geführt haben. Gleichzeitig kenne ich Personen, die sich augenscheinlich problemlos für eine Person alleine entscheiden. Freunde haben aber von durchaus anstrengenden Erfahrungen berichtet - es brauche also viel Mühe, eine polyamoröse Beziehung immer wieder auszubalancieren und die eigenen Gefühle (wie Eifersucht) zu reflektieren.“
In den meisten Gesellschaften ist nicht Monogamie, sondern Polygamie das Leitbild, wie das „Ethnographic Atlas Codebook“ (PDF, S. 4-5) ermittelt hat. Das bedeutet aber nicht, dass weltweit die meisten Menschen polygam leben. Im Gegenteil. Die Statistik hier unterscheidet nicht nach kleinen und großen Gesellschaften, sondern stellt alle 1.231 untersuchten auf eine Stufe. Demnach sind 186 monogam, 1.041 polygyn (Vielweiberei) und 4 polyandrisch (Vielmännerei). Hinzu kommt, dass auch in sogenannten polygynen Gesellschaften, etwa in islamisch geprägten, nur ein geringer Teil der Männer tatsächlich mit mehreren Frauen verheiratet ist. Und so kommt es, dass Dreiviertel der Weltbevölkerung eben in monogamen Kulturen und in Staaten leben, die Polygamie verbieten.
Monogamie hat sich als Leitbild durchgesetzt, was nach Ansicht von Forschern unter anderem daran liegt, dass sie gesünder ist, das heißt, sie hilft zu vermeiden, dass sich sexuelle Krankheiten ausbreiten.
Das heißt aber nicht, dass man sich nicht auch zu mehreren Menschen hingezogen fühlen kann. Will man den Begriff weiter fassen, sind es Millionen, nämlich all jene, die fremdgehen, wie ich in dieser Kolumne untersucht habe. Demnach sind mehr als jede dritte Frau und knapp jeder zweite Mann schon einmal fremdgegangen.
Polyamorie bedeutet hingegen nicht, Fremdgehen oder versteckte Gefühle für einen anderen, was vermutlich viele von uns kennen. Sondern es ist der Versuch, diese mit dem Wissen aller Beteiligten tatsächlich auszuleben oder zumindest in irgendeiner Form zu teilen. Dabei gibt es verschiedene denkbare Konstellationen. Etwa die von Krautreporter-Mitglied J. und dessen Partnerin. Sie sind seit fünfeinhalb Jahren ein Paar und haben vor zwei Jahren begonnen, ihre Beziehung zu öffnen. Heute pflegt der 33-Jährige zwei Freundschaften „plus“. Seine fünf Jahre jüngere Partnerin hatte eine längere polyamore Beziehung zu ihrem „Zweitfreund“, die inzwischen daran gescheitert ist, dass der mehr Sicherheit und Langfristigkeit wollte. (Den ausführlichen Erfahrungsbericht von Krautreporter-Leser J. können Mitglieder in der Anmerkung rechts lesen.)
https://www.youtube.com/watch?v=TdlR1YAFTkk
Das Wort „polyamory“ wurde um 1990 erfunden und seither durch Internetforen populär gemacht. Polyamorie stellt einen weiteren Versuch dar, Ordnung in die Unordnung menschlicher Gefühle zu bringen. Sie ist damit der Monogamie ähnlicher, als ihr womöglich lieb ist. Beides sind letztlich Liebeskonzepte, mit Hilfe derer wir versuchen, unser Leben zu sortieren.
Oder in den Worten des Biophilosophen Eckart Voland von der Universität Gießen, der im Deutschlandfunk sagte: „Wir finden in dem unendlichen Zoo der Menschheit praktisch nichts, was es nicht gibt. Und von daher ist jeder Verweis auf irgendeine Natur des Menschen für eine monogame Lebensweise oder gegen eine monogame Lebensweise im Ansatz schon verkehrt. Wir müssen uns überlegen, unter welchen Bedingungen eigentlich Menschen geneigt sind, mehrere Beziehungen einzugehen und zu pflegen und unter welchen Bedingungen nicht.“
Wahrscheinlich geht es vielen Lesern so wie Martin aus Jena, der mir schreibt: „Von Polyamorie hatte ich noch nie etwas gehört, habe mir aber jetzt mal den Wikipedia-Eintrag dazu durchgelesen und konnte mich in einigen Beschreibungen wiederfinden. Schön, dass ich jetzt ein Wort dafür kenne.“ Und Krautreporter-Leser Armin (34) schlägt vor, den Begriff noch etwas weiter zu fassen: „Für mich ist polyamorös, wer sich zu mehreren Menschen hingezogen fühlen kann. Ob jemand so leben will, oder doch monogam, ist wieder eine ganz andere Frage.“
Eine, die polyamoröse Gefühle hat, aber monogam lebt, ist Krautreporter-Leserin L. Die 29-Jährige ist seit über fünf Jahren mit ihrem Freund zusammen, sie haben zwei Kinder. L. ist sich sicher: „Wir sind glücklich, haben unsere Alltagsprobleme, aber wir lieben uns. Ich weiß, wenn es einen Mann fürs Leben gibt, ist er es.“ Seit über einem halben Jahr fühlt sie sich aber zu einem anderen Mann hingezogen. „Was anfangs rein körperlich war, hat sich zu einer tiefen Begegnung entwickelt, die mehr impliziert als den Wunsch nach Aufregung, nach Sex und Befriedigung. Ich habe mich in ihn verliebt, will dieses Wort aber eigentlich nicht verwenden, weil Liebe doch eigentlich reserviert ist für jemand anderen in meinem Leben.“ Sie fragt sich, ob es mehr Betrug ist, einen anderen Menschen lange Zeit im Kopf zu haben, als einer flüchtigen Liebschaft körperlich nachzugeben und ob es andererseits nicht eigentlich ganz normal ist, dass einem manchmal die Gefühle einer Person nicht reichen.
Krautreporter-Leser Martin (23) hat versucht, polyamorös zu leben, ist dabei jedoch an die Grenzen aller Beteiligten gestoßen, wie er berichtet: „Ich hatte über zwei Jahre das Gefühl, in zwei Menschen verliebt zu sein. Dabei haben die Emotionen überhaupt nicht miteinander konkurriert. Eine Freundin hat mir vorgeworfen, ‚zweigleisig zu fahren’. Aber, wenn das so war, dann fuhr auf einem Gleis ein Güterzug und auf dem anderen eine Straßenbahn. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Mich hat das dermaßen verwirrt, dass ich beide Empfindungen lange unterdrückt und ignoriert habe. Ich dachte mir: Das kann nicht sein, du verwechselst Freundschaft mit Liebe. Irgendwann habe ich meine Gefühle tatsächlich einer der beiden Personen mitgeteilt, woraufhin wir auch eine kurze Beziehung geführt haben. Auch mit der anderen Person gab es immer wieder liebevolle oder auch erotische Momente, wir haben aber nie darüber gesprochen. Zerbrochen ist das Ganze an Eifersucht, weil die beiden zusammen in einer Wohngemeinschaft leben. Heute traue ich mich überhaupt nicht mehr, eine der beiden zu kontaktieren, um deren Freundschaft nicht zu belasten.“
Belastbare Zahlen gibt es in diesem Bereich nicht. Silvio Wirth, der die Website polyamorie.de betreibt, schätzt, dass deutschlandweit 10.000 Menschen polyamorös leben, ihn selbst eingeschlossen, in den USA seien es etwa 100.000. Andere Schätzungen sind etwas defensiver und gehen von 600 bis 6.000 aus.
Wenn ich das richtig sehe, lieber K., bist du mit deinem Gefühl, dich zumindest zeitweise zu mehreren oder mindestens zwei Menschen gleichzeitig hingezogen zu fühlen, nicht allein. Dennoch ist es nur eine Minderheit und mithin nicht normal, tatsächlich polyamorös im engeren Sinne zu leben.
Aufmacherbild: Petra Schmidt-Schaller als Amrita in „Sommer in Orange“ (© Majestic Film); Redaktion: Vera Fröhlich; Produktion: Theresa Bäuerlein; Audio: Iris Hochberger.