Prokrastination: Warum prokrastinieren wir? Warum schieben wir Dinge auf? Ist es normal, erst dann richtig zu arbeiten, wenn es höchste Eisenbahn ist?

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Leben und Lieben

Warum wir erst arbeiten, wenn es fast schon zu spät ist

Krautreporter-Mitglied Beatrix hat gefragt, ob es normal ist, erst dann richtig mit der Arbeit loszulegen, wenn es schon höchste Eisenbahn ist – so wie ein ehemaliger Präsident der USA.

Profilbild von Kolumne von Susan Mücke

Noch keine „Bin ich normal?“-Frage wurde so eindeutig von euch gevotet wie diese. Zwei Drittel von euch wollten eine Antwort darauf haben, ob die sogenannte Aufschieberitis normal ist. Ob das darauf schließen lässt, dass unter den KR-Lesern Prokrastination überdurchschnittlich verbreitet ist, lasse ich einmal dahingestellt. Ebenso wie die im Atlantic (auf Englisch) gelesene These, dass Autoren die schlimmsten Prokrastinierer überhaupt seien.

Bevor ich in die datenbasierte Beantwortung von Beatrix’ Frage gehe, möchte ich gerne die Erfahrungen von KR-Mitglied Martin mit euch teilen, denn sie enthalten für mich eine Reihe nachdenkenswerter Aspekte.

Martin ist Vater von zwei Kindern und ebenso wie seine Frau voll berufstätig. Im Job (technische Sicherungslösungen) hat er immer mehr zu tun, als Zeit da ist, weniger Arbeitskräfte, als er brauchen würde und erzielt einen eigentlich zu niedrigen Preis. Zu Hause ist der Alltag darauf ausgelegt, in Routinen möglichst reibungslos zu laufen. Auf den letzten Drücker wird eigentlich alles erledigt, weil es vorher auch nicht dran und anders auch nicht möglich ist, „weil ich mit etwas anderem ja eh schon zu spät bin, ich auch nicht früher anfangen will, weil das bedeutet, dass wir noch mehr Zeit investieren in Dinge, die eh schon knapp kalkuliert sind“.

Für Martin ist es absolut normal, erst dann tätig zu werden, wenn es brennt: „Alles andere ist Zeitverschwendung, denn es ist ja eine Art Naturgesetz, dass man immer so lange braucht, wie man dafür Zeit hat. Evolutionär betrachtet bringt es ja auch keinen Vorteil, früher fertig zu sein, eher einen Nachteil, weil man für das höhere Tempo mehr Energie braucht bzw. etwas anderes (und sei es sich auszuruhen) nicht machen kann.“

Irgendwie klingt das überzeugend.

Berühmte Vorbilder müssen her. Bill Clinton soll legendär für seine chronische Aufschieberitis gewesen sein. Während ihm sein Mitarbeiterstab schon Wochen oder gar Monate Zeit gewährte, um wichtige Reden gegenzulesen, endete das Ganze dennoch immer wieder in „harrowing last-minute cut-and-paste sessions”, wie das Time Magazine 1994 schrieb. Auch seine Frau Hillary offenbarte, es habe sie regelmäßig fast zum Wahnsinn getrieben, ihn auf irgendeine Art Zeitplan festzulegen. Dennoch hat es Bill bis zum US-Präsidenten gebracht.

Aufschieberitis ist eine Trendstörung. Heute gammelt man nicht, man prokrastiniert. Spätestens seit Kathrin Passigs Buch „Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“ ist das Prokrastinieren in aller Munde. Die Forschung unterscheidet zwei Typen: die Erregungsaufschieber, denen es einen Kick bringt, und die Vermeidungsaufschieber, die mit einer Aufgabe unangenehme Dinge verbinden. Psychologen, wie Fred Rist von der Universität Münster, mahnen jedoch, dass das echte Prokrastinieren nicht einfach eine schlechte Angewohnheit sei. Es kann mit Depressionen, Angststörungen, ADHS oder einer Psychose einhergehen oder diese auslösen. Mindestens ist es Ursache für Frust und schlechtere Leistungen.

Jeder fünfte Student soll laut wissenschaftlichen Erhebungen unter chronischer Prokrastination leiden. Die Untersuchungsergebnisse lassen sich demnach ohne weiteres auf andere Bereiche übertragen. Stichprobenuntersuchungen in der Allgemeinbevölkerung anhand normierter Fragebögen haben zu ähnlichen Ergebnissen geführt.

Interessant, aber naheliegend ist, dass in unstrukturierten Studiengängen wie Germanistik oder Anglistik mehr prokrastiniert wird als in strukturierten, wie Medizin, Pharmazie oder Psychologie (19 vs. 14 Prozent) und in höheren Semestern mehr als am Anfang (21 vs. 15 Prozent). Während es Männern schwerfällt, ihr Pensum zu planen und damit anzufangen, sind Frauen eher unsicher und ängstlich beim Lernen. In welchem Maße man prokrastiniert, kann man selbst anhand der Skala des US-amerikanischen Psychologen Bruce Tuckman ermitteln:

Die Tuckman Procrastination Scale

Die Tuckman Procrastination Scale Scan

Nimmt man den Ansatz von KR-Leser Martin ernst, so muss es aber jenseits des pathologischen Prokrastinierens eine schwer messbare Grauzone geben, die sich als eine Art naturgegebenes Aufschieben bezeichnen lässt. Das deckt sich mit psychologischen Studien.

Von Natur aus ist jeder Mensch ein Aufschieber.

Glaubt man Fred Rist, machen all jene, die wichtige Aufgaben vertagen, statt sie sofort zu erledigen, alles richtig. Das weiß eigentlich schon der Volksmund: „Gut’ Ding will Weile haben.“ In der Steinzeit war es überlebenswichtig, alle Kraft und Aufmerksamkeit auf den Moment zu richten. Denn ob es überhaupt eine Zukunft geben würde, war in einer Zeit ohne Krankenhäuser und Kaufhallen ungewiss, wie Nando Pelusi von der St. John’s University in New York argumentiert. Bis heute habe sich das Gehirn dieses Prinzip bewahrt. Es schätzt mehr, unmittelbar belohnt zu werden, als eventuell später Lob und Anerkennung zu bekommen.

Die Hymne aller Prokrastinierer stammt übrigens von John Lennon. In „Watching the wheels“ beschreibt er treffend: „They look at me as if I’ve lost my mind / I tell them, there’s no hurry / I’m just sitting here doing time.“

https://www.youtube.com/watch?v=uVXR2LYeFBI

Martin und Beatrix, wir haben anscheinend nicht alles falsch gemacht. Das letzte Wort überlasse ich daher Martin: „Mut zur Lücke, Perfektion wird überschätzt!“


Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 3. Februar 2016.

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